Wir brauchen Schulen, die anders sind
Der Geschäftsführer der Evangelischen Schulstiftung in Bayern, Manfred Roß, der zusammen mit dem damaligen Vorstandsvorsitzenden Dr. Jürgen Bohne im Auftrag der EKD-Schulstiftung viele Schulgründungen in den neuen Bundesländern mitberaten hat, erinnert sich gerne an diese Zeit. Er war beeindruck von dem Mut und dem hohen Engagement der Initiator*innen Evangelischer Schulen.
Der Wunsch nach einer anderen Pädagogik war groß
Nach der friedlichen Revolution gab es in der Bevölkerung eine große Aufbruchsstimmung. Viele Menschen wollten ihre Freiheit nutzen und Neues auf die Beine stellen. Viele Eltern wollten ihre Kinder nicht in eine Schule geben, die sie aus der eigenen Schulzeit kannten. Sie trauten dem etablierten Schulsystem nicht zu, dass es sich innerhalb kurzer Zeit tatsächlich verändern würde. Daraus entstand der Wunsch nach „neuen Schulen“ in freier Trägerschaft, die nach reformpädagogischen Konzepten arbeiten und die Förderung des einzelnen Kindes in den Mittelpunkt stellen würden.
Anders als in den alten Bundesländern, wo es sich – vor allem in Bayern – im Kern um ein konfessionelles Schulwesen handelt und sich kirchliche Schulen eher an den staatlichen Schulen orientieren, waren Schulgründungen in den neuen Bundesländern eine Suchbewegung nach Alternativen zur staatlichen Schule und somit im Kern eher reformpädagogisch orientiert. Die Kirche bot hierfür ein passendes Zuhause.
So entstanden in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen 1993 die Evangelische Grundschule in Gotha, das Christliche Gymnasium Jena und 1994 das Martin-Luther-Gymnasium in Eisenach, deren Schulverwaltung in den ersten Jahren sogar von der Evangelischen Schulstiftung in Bayern übernommen wurde.
Aus kleinen Anfängen wurden große Schulen
Vieles war damals zur Zeit der Gründungen noch nicht geregelt. Es gab noch kein Gesetz für Schulen in freier Trägerschaft, so dass die Rahmenbedingungen mit den Ministerien verhandelt werden mussten, was für die ganze Unternehmung immer eine gewisse Unsicherheit mit sich brachte. Auch die Landeskirche musste erst noch überzeugt werden, dass in Evangelischen Schulen eine große Chance für die kirchliche Bildungsarbeit steckt. Diese Hürden, aber auch, dass der Schulbetrieb in ungeeigneten und provisorischen Gebäuden aufgenommen werden musste, taten dem ganzen keinen Abbruch. Im Gegenteil. Die winzigen Anfänge wurden mit viel Herzblut und Elan der Schulleitungen, Lehrkräfte und Eltern vorangetrieben, so dass sich daraus in den Jahren große und tolle Schulen entwickeln konnten. Die Evangelische Schulstiftung in Mitteldeutschland als heutige Schulträgerin unterhält mittlerweile 24 Bildungseinrichtungen in Thüringen und Sachsen-Anhalt mit 5.300 Schüler*innen und 640 Mitarbeitenden.
Der Gründungsgeist lebt weiter
Als Stiftungsratsvorsitzende zweier Schulstiftungen der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland konnte ich die Schulen über ein Jahrzehnt begleiten. Der Reformeifer der Gründungszeit ist nach wie vor in einer kontinuierlichen Schulentwicklung spürbar. Das Thema der Profilbildung ist von großer Aktualität. Es gehört zum Selbstverständnis der meisten Schulen, ihr pädagogisches Konzept auch im Licht des evangelischen Profils vital weiterzuentwickeln. „Das Besondere in dieser Zeit war, dass alle Seiten – Eltern, Lehrkräfte, Schulleitung, Kirchenvertreter – dasselbe wollten, nämlich eine gute Schule entwickeln“, so Cornelia Schäfer, Schulleiterin in Gotha, später in Erfurt. Sie ist der Überzeugung, dass dieser Gründungsgeist das Schulleben bis heute prägt.
Lernen ist an individuellen Bedürfnissen ausgerichtet
Ich erinnere mich noch gut an einen Schulbesuch, den ich zusammen mit einem ehemaligen Vorstand der Deutschen Bank und dessen Frau in der Evangelischen Grundschule in Gotha gemacht habe. Nach einer kurzen Begrüßung durch die Rektorin, wurden wir vom Schülersprecher, einem Junge aus der vierten Klasse, durch die Schule geführt. Ausführlich und ausgesprochen kundig hat er uns erklärt, wie der Unterricht gestaltet wird, wie das Miteinander funktioniert, was ihm besonders gefällt und was er gerne anders hätte. Besonders stolz war er darauf, dass die Schule keine Schulglocke hat, sondern dass als Pausensignal Musik gespielt wird. Das Musikprogramm wird von den Klassen abwechselnd geplant. Auf die Frage des Bankmanagers, ob es mit den „behinderten Kindern“ nicht schwierig sei, sagte der Schüler: „Die Kinder sind ja nicht behindert. Sie können nur manches nicht so gut. Aber jeder Mensch braucht irgendwo Hilfe. Wir lernen in der Schule wie man das macht.“
Die Begegnung mit dem Schülersprecher hat mir gezeigt, dass das Leitbild der Schule in Gotha bewusst gelebt wird: „Auf der Grundlage christlicher Werte, wie Toleranz und Akzeptanz, Nächstenliebe, Güte und Vergebung gestalten wir eine Schulgemeinschaft, in der jeder Mensch in seiner Einzigartigkeit angenommen wird. Im Mittelpunkt stehen dabei die Achtung und Würde eines jeden Menschen, die Bewahrung der Schöpfung Gottes und die Übernahme der Verantwortung dafür. Die Vielfalt des Lebens sehen wir als Bereicherung und als Chance, Neues zu entdecken und kreativ zu gestalten. Wir verstehen unsere Schule als Erfahrungsraum, wo Gleichheit und Verschiedenheit erlebt und Unterschiede als wertvoll erfahren werden. Eine ganzheitliche Erziehung ist Grundlage unserer pädagogischen Arbeit.“
Mit Blick auf Schulentwicklung heute voneinander lernen?
Die Unterstützung aus Bayern wurde von den Thüringern sowohl im Gründungsprozess wie und auch in den Jahren des Aufbaus als sehr hilfreich erlebt und kann am Tag der Deutschen Einheit als gelungenes Beispiel der Zusammenarbeit im Zuge der Wiedervereinigung gewürdigt werden. „Es war ein gutes Miteinander“, so Cornelia Schäfer, „ohne die Beratung der Evangelischen Schulstiftung in Bayern hätten wir es nicht so gut hingekriegt.“
Damals haben die Evangelischen Schulen in Thüringen vom Know-How der Bayern profitiert. Heute können beide Seiten voneinander lernen. Schulentwicklung braucht den Blick über den Zaun. Daher sind Besuchsbegegnungen, Hospitationen etc. von Schulleitungen und Kollegien sicherlich bereichernd, um zu sehen, wie wir das Gute entfalten können.
Einen interessanten Einblick in die Beweggründe von Schulgründerinnen und Schulgründer gibt das Buch: Martin Weinhold, Mutprobe und Gottvertrauen. Von der visionären Kraft evangelischer Schulgründerinnen und Schulgründer, Leipzig 2021
Mutprobe und Gottvertrauen | Evangelische Schulstiftung in der EKD (eva-leipzig.de)
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