Diakonisches Lernen - ein Stück des Lebens begreifen

25.10.2021
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Quelle: Netzwerk Diakonisches Lernen in Bayern

von Martina Klein

Am Freitag, den 15. Oktober 2021, feierte das Netzwerk Diakonisches Lernen in Bayern sein 10-jähriges Bestehen. Wer hätte das vor 10 Jahren gedacht, dass sich einmal eine bayernweite Bewegung etabliert, die Schülerinnen und Schüler, Studierende, diakonische Fachkräfte und Lehrkräfte durch Begegnungen an diakonischen Lernorten miteinander vereint?

Das diakonische Lernen ist für Evangelische Schulen sehr bedeutsam. Deshalb ist es wichtig, dass es eine weitere Verbreitung an unseren Schulen erfährt. Dafür setzen wir uns als Evangelische Schulstiftung in Bayern ein.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Bildung geschieht vor allem durch Widerfahrnisse. So sagt es der Theologe und Erziehungswissenschaftler Karl-Ernst Nipkow. Widerfahrnisse, ein altes Wort. Nipkow meint damit, dass wir vor allem dann nachhaltig lernen, wenn uns Ungeplantes und Unerwartetes begegnet, sei es faszinierend und überwältigend oder auch verstörend, lästig oder erschütternd.

Gibt es das in Ihrem Leben auch? Erinnern Sie sich an Begegnungen oder Erfahrungen, die Sie im Alltag gemacht haben, wo Sie hinterher dachten: Jetzt habe ich etwas Wichtiges für mein Leben gelernt. Jetzt habe ich ein Stück des Lebens begriffen.
Ich möchte Ihnen ein solches Beispiel von mir erzählen.

Ich habe als junge Pfarrerin ein Jahr lang in Mexiko gelebt und gearbeitet. Mexiko-City, eine Stadt mit über 20 Mio. Einwohnern. Ich hatte mir angewöhnt, immer eine Handvoll Pesos in der Tasche zu haben. Die braucht man dort für Bettler und die vielen kleinen Dienstleistungen im Alltag.

Ich bin also unterwegs zum Einkaufen. Auf dem Hinweg Stau. An jeder roten Ampel trifft man auf Bettler, fliegende Händler und Artisten, die hier ihren Lebensunterhalt verdienen. Also: Der Jongleur kriegt einen Peso, ebenso der Junge, der meine Autoscheiben putzt, der Parkwächter am Supermarkt, die Schülerinnen, die meinen Einkauf in Tüten packen, der Bettler vor dem Supermarkt und wieder der Parkwächter, der mir beim Ausparken hilft (was ich wohlgemerkt nicht brauche) und so geht es auf dem Rückweg weiter. Der Clown für seine Darbietung auf der Kreuzung, die Autoscheiben werden zum zweiten Mal geputzt und der Stau will kein Ende nehmen. Ich bin genervt und es ist mir klar. Jetzt ist Schluss. Ich habe genug Geld verteilt. Ich gebe nichts mehr.

Wieder eine rote Ampel, wieder warten. Da klopft eine junge Frau an die Autoscheibe. Sie will Geld. Ich schüttle den Kopf. Sie bittet erneut und zeigt auf ihre Kinder. Eines auf dem Rücken, eines an der Hand. Also. Scheibe runter, widerwillig gebe ich ihr einen Peso.

Sie lächelt mich an. Bedankt sich. Legt die Hand auf meinen Kopf und segnet mich. Die Ampel springt auf grün, hinter mir wird gehupt und ich fahre weiter – als Gesegnete.

Bildung geschieht vor allem durch Widerfahrnisse. Das hat mir die Begegnung mit dieser jungen Mutter gezeigt. Sie – die auf den ersten Blick Bedürftige – konnte mir mehr geben als ich ihr. Sie hat ihre eigene spirituelle Kraftquelle mit mir geteilt und mir die Würde, den Wert und den Stolz allen menschlichen Lebens gezeigt. Erst viel später habe ich den Begriff des Empowerments kennengelernt.

Genau das bedeutet für mich diakonisches Lernen. Nämlich Lernen in der Begegnung mit Menschen, die hilfsbedürftig sind. So gehen zum Beispiel Schüler*innen der Laurentius-Realschule Neuendettelsau regelmäßig in ein Altenheim. Dabei sind sie mit der Würde und Bürde des Alterns und dem nahenden Lebensende konfrontiert. Im Unterricht tauschen sie sich aus und reflektieren das Erlebte. Sie setzen sich mit Themen wie Helfen, Nächstenliebe, Tod und Trauern auseinander.

Was die Schüler*innen im Altenheim erleben, welche Eindrücke sie mitnehmen und wie sie diese für sich verarbeiten, ist nicht planbar oder vorhersehbar. Solche Bildungserlebnisse sind unverfügbar. Sie entstehen, wenn wir mit anderen und der Welt in Resonanz zu treten, wie Hartmut Rosa es ausdrückt. Wir können sie weder steuern noch messen. Sie entstehen im Dialog und in der Beziehung mit anderen Menschen; und wir wissen: das Erleben in einer Beziehung ist nicht planbar. Aber wir können diakonische Lernräume und Settings anbieten, in denen ein solcher Resonanzraum entsteht und christliche Werte erfahrbar werden.

Wie sonst lernen wir eine Kultur des Mitgefühls kennen? Wie sonst erfahren wir, was es heißt, barmherzig und hilfsbereit zu sein? Wie sonst werden wir mündig in der Übernahme von Verantwortung für die Gesellschaft?

Für mich war die Begegnung mit der Bettlerin damals ein Fingerzeig. Wir erkennen die christliche Botschaft in der Option für die Armen. „Lernt, Gutes zu tun! Sorgt für das Recht! Helft den Unterdrückten! Verschafft den Waisen Recht, tretet ein für die Witwen!“ (Jes 1, 17). Jesus nachzufolgen bedeutet, den Notleidenden und Bedrückten zu begegnen.

Wenn wir der alten Weisheit folgen „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir!“, dann sollten wir in den Schulen die Türen zum Leben weit offenhalten: Es ist meine Vision, dass wir das diakonische Lernen in den Lehrplan aufnehmen.

Wir haben uns als Evangelische Schulstiftung von Anfang an bei der Konzeption des diakonischen Lernens beteiligt und werden es auch in Zukunft tun. Ich bin froh, dass das diakonische Lernen zum Profil Evangelischer Schulen gehört. Denn es geht darum, den Schülerinnen und Schülern unterschiedliche Lernorte zu eröffnen.

Weitere Infos: www.diakonisches-lernen.de

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